Bedrohtes Klima, fragile Natur: Was die „Polarstern“ in der Arktis erforscht hat

Der Wissenschaftsjournalist Tim Kalvelage (Text & Fotos) war mit Förderung der Riff freie Medien gGmbH mit deutschen Forscherinnen und Forschern in der Arktis unterwegs und konnte beobachten, wie sie die Biodiversität der Region erforschen. Diese Reportage ist ein Beispiel, was Kalvelage bei seinen Recherchen erlebt hat

Tim Kalvelage ist promovierter Biogeochemiker und Absolvent der Reportageschule in Reutlingen. Er war Redakteur für Chemie und Geowissenschaften beim Magazin Spektrum der Wissenschaft. Heute arbeitet er als freier Journalist und Fotograf für deutschsprachige Zeitungen und Magazine und berichtet vor allem über Ozean- und Klimaforschung.


DICHTER NEBEL ist aufgezogen, wie so oft in den vergangenen Tagen. Die „Polarstern“ am Rand der Eisscholle ist nur noch schemenhaft zu erkennen. Wenige hundert Meter vom Schiff entfernt taucht vor Kim Vane, Meeresbiologin am Alfred-Wegener-Institut (AWI), ein Tauchroboter in einem Loch der Scholle auf. Am seinem Heck hängt ein fünf Meter langes feinmaschiges Netz, an dessen Einlass der Kopf eines Straßenbesens nach oben zeigt. Damit wurde die Unterseite des Meereises „gekehrt“, um Zooplankton zu sammeln - Tierchen von wenigen hundert Mikrometern bis einigen Zentimetern Größe, die mit der Strömung treiben. Nachdem Vane die Probe aus dem Netz in ein Gefäß überführt hat, taucht der Roboter erneut ab. Nun wird das Planktonnetz in zehn Metern Tiefe durchs Wasser gezogen.


Ohne Zooplankton geht gar nichts


Eine Stunde später inspiziert Vane an Bord den Fang des Tages. Direkt unter dem Eis sind ihr Dutzende Flohkrebse ins Netz gegangen, die andere Probe wimmelt von Ruderfußkrebsen mit roten Antennen; dazwischen entdeckt Vane zwei Leuchtgarnelen und ein paar winzige Quallen. Mit eine Pinzette sortiert sie die Arten in kleine Glasschälchen und fotografiert sie unter dem Mikroskop. Danach werden sie eingefroren oder in Alkohol konserviert, für genetische und biochemische Analysen in den Laboren des AWI.

Zooplankton spielt eine wichtige Rolle im Nahrungsnetz des Arktischen Ozeans, als Futterquelle für Seevögel und Fische - und damit auch für größere Räuber wie Robben, Wale und Eisbären. Die kleinen Krebstierchen und Quallen ernähren sich ihrerseits zum Großteil von Mikroalgen, die sie unter den Schollen abweiden oder aus dem Wasser filtern. „Ich will verstehen, wie sich der Eisrückgang auf die Produktivität im Arktischen Ozean auswirkt und wie das Ökosystem in einer eisfreien Zukunft aussehen könnte“, sagt Vane. Dafür nutzt sie Biomarker, bestimmte Moleküle wie Aminosäuren oder Fettsäuren, die von Algen produziert werden und die das Zooplankton frisst. Die Moleküle verraten ihr, welche Algengruppen als Energiequelle dienen.


Zappelnde Polardorsche


„Die Arktis ist eine extremer Lebensraum, aber keine leblose Wüste. Rund um den Nordpol gibt es hochangepasste Organismen, die der Kälte und der Dunkelheit in der langen Polarnacht trotzen“, erklärt Vane. „Zugleich verändert sich die Arktis rasant.“ Durch die Ozeanerwärmung wandern etwa Algenarten aus dem Atlantik ins Nordpolarmeer ein, die weniger energiereiche Fette als hier heimische Kieselalgen enthalten, so die Forscherin. Sinkt die Futterqualität des Zooplanktons, wirkt sich das langfristig auf das gesamte Nahrungsnetz aus.


So warnt beispielsweise eine aktuelle Studie unter Beteiligung des AWI, dass der Klimawandel die Bestände des Polardorsches bedroht. Von dieser häufigsten Fischart der Arktis ernähren sich Ringelrobben, Narwale und Belugas. Als Larven und Jungfische leben sie in Spalten unter dem Meereis, wo sie Schutz vor Räubern und Nahrung finden. Wenn wir auf unserer Reise mit der „Polarstern“ durch Schollen brechen, sehen wir immer wieder kleine Polardorsche, die zappelnd auf dem Eis landen. Mit dem Eisrückgang verlieren sie ihren Lebensraum, ihre Nahrungszusammensetzung wird sich ändern. Das könnte ihr Wachstum verlangsamen und ihre Sterblichkeit erhöhen. Zudem bekommen sie neue Nahrungskonkurrenten, weil Atlantische Dorsche und Seevögel ihr Verbreitungsgebiet nach Norden ausdehnen.


Die Wanderung der Ruderfußkrebse


Kim Vane lässt zusammen mit ihrer Kollegin Kathryn Cook von der Universität Exeter vom Schiff aus regelmäßig Planktonnetze bis in 1500 Meter Wassertiefe hinab. Am vergangenen Freitag wird das Multinetz mithilfe der Schiffscrew aussetzt. Geforscht wird rund um die Uhr. Gut eine Stunde später werden fünf Proben aus verschiedenen Wasserschichten an Deck gehievt. Nach einem zweiten Einholen und dem Frühstück sortieren, mikroskopieren und konservieren Cook und Vane wieder Zooplankton im Kühllabor.


Cook interessieren Ruderfußkrebse. Die zwei bis acht Millimeter kleinen Tiere machen den Großteil der Biomasse des Zooplanktons aus. „Wir finden Ruderfußkrebse aktuell in den oberen 200 Metern“, sagt sie. „Viele sind ziemlich fett.“ Die Krebse fressen sich im Frühjahr und Sommer, wenn das Phytoplankton blüht, Fettreserven an. Davon zehren sie in der dunklen Jahreshälfte, die sie in einer Art Winterruhe in gut 1000 Meter Tiefe verbringen. Im Frühjahr schwimmen sie zurück an die Meeresoberfläche, wo sie Eier legen. „Durch die Wanderung der Ruderfußkrebse gelangt Kohlendioxid, das Algen an der Oberfläche gebunden haben, in die Tiefsee“, erklärt Cook. Wie viel Kohlenstoff in der Tiefe bliebt, will sie herausfinden. Dafür wird sie zurück an Land den Kohlenstoffgehalt und -umsatz der Krebschen analysieren.

Das Expeditionsteam beendet die Arbeiten an der vierten Eisstation. Die „Polarstern“ bricht zur nächsten Scholle auf: Zur Startposition der MOSAiC-Expedition, bei der das Schiff 2019 und 2020 zehn Monate lang eingefroren im Meereis quer über den Arktischen Ozean trieb, um den Klimawandel zu studieren.

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